Der Löwe sitzt auf dem Asphalt zwischen Stapeln von Containern, die bis in den Himmel ragen. Allerdings hängt der heute auch besonders tief, es ist ein nebliger Tag, ungemütlich und kalt, Herbst in Hamburg eben. Der Löwe scheint zu frösteln. Aber er ist hier zu Hause, das ist sein Revier, er ist der Großstadtlöwe. Das Haupt hoch erhoben schaut er in die Kamera.
Aus der Entfernung ist nur schwer zu erkennen, dass die Mähne aus langen Wollfransen besteht, dass in dem Löwen ein anderer steckt, Tschikko nämlich, ein sechs Jahre alter Mischling, wahrscheinlich halb irischer Terrier, halb chinesischer Shar Pai, so genau kann man das nicht sagen. Auf jeden Fall hat er Gene geerbt, mit denen ihm die Illusion perfekt gelingt. Sein Fell: kurz und struppig und braun wie die Savanne. Die Schnauze: genauso lang und kräftig, wie es sich für ein Löwengesicht gehört. Und dann die Augen: ein leuchtendes Bernsteinbraun. Wenn Tschikko einen anschaut, nimmt man ihm den Löwen ab. Als sich die Fotografin, Julia Marie Werner, Jahrgang 1982, und der Hund das erste Mal begegnen, ist vom König der Tiere noch nichts zu ahnen. Sie ist auf einem großen Foto-Shooting in Spanien, Aufnahmen für eine Werbekampagne, und als das Team mittags beim Essen sitzt, stöbert ein zerzauster, abgemagerter Welpe in den Mülltonnen nach Futter. Ein spanischer Mitarbeiter nimmt einen Stock und verscheucht den Hund. „Wie er da so jaulend weglief“, sagt Julia, „hat es mir fast das Herz gebrochen.“ Sie schwört sich: Wenn er zurückkommt, ist das mein Zeichen, dann werde ich mich um ihn kümmern. Eine Viertelstunde später liegt das magere Kerlchen neben dem Fototeam im Schatten eines Lastwagens. Mit Wasser aus einer Regentonne wäscht Julia den Hund, sie besorgt Medikamente für eine Wurmkur, zieht ihm die Zecken aus dem Fell. Tschikko nennt sie ihn, nach dem spanischen chico, Knirps, junger Bursche. Später beobachtet sie ihn, wie er herumtollt und Schmetterlinge jagt. Wie der kleine Simba im Film, denkt Julia, wie im „König der Löwen“. Und da ist er zum ersten Mal, dieser Gedanke. Tschikko, der verstoßene, verwahrloste Streuner aus Spanien, ist in Wahrheit ein Löwe. Julia schenkt ihm als zweiten Vornamen den königlichen „Leopold“, was so viel bedeutet wie „der Kühne aus dem Volk“ und gleichzeitig auch den Löwen anklingen lässt. Dann hängt sie noch ihren eigenen Nachnamen hinten dran und erhebt den Straßenhund in den Adelsstand: Tschikko Leopold von Werner.
Die Rückkehr aus Spanien hatten sie sich anders vorgestellt. Die Stuttgarterin will nach Hamburg umziehen, hatte sich ein Zimmer in einer WG besorgt, doch ihre künftigen Mitbewohner sperren sich gegen den Vierbeiner. Mehr als siebzigtausend Hunde gibt es in Hamburg und Julia gerät ausgerechnet an eine WG, die ihren Tschikko nicht will. Und jetzt? Vorübergehend kommen die beiden in einem ehemaligen Seemannsheim unter, teilen sich ein winziges Zimmer in Winterhude. Erst im Jahr darauf findet sie in Eimsbüttel eine eigene Wohnung. Es fällt dem Streuner nicht leicht, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden. Tschikko ist ängstlich, sehr nervös, wer weiß, was er als Welpe erlebt hat. Er braucht klare Ansagen, feste Routinen, Sicherheit. Julia kommen Zweifel. Eine Hundesitterin, die sie im Park trifft, gibt ihr schließlich einen Rat, der alles verändert. „Hast du schon mal versucht, ihm Tricks beizubringen? Dein Hund braucht eine Aufgabe.“ Aber wie soll die aussehen? Der Zufall hilft, wie so häufig in dieser Geschichte. Eine Freundin stöbert im Internet nach skurrilen Artikeln für ihren Laden. „Guck mal“, sagt sie und zeigt Julia einen Online-Katalog mit seltsamen Kostümen für Hunde. Hörner zum Aufsetzen, einen blauroten Anzug für den Superhund, nur Ramsch eigentlich. Doch bei Julia keimt ja bereits dieser Gedanke. „Hast du irgendwo so was wie ’ne Mähne gesehen?“ Hat sie nicht. Aber sie hat da noch dieses Vlies aus braunen Wollfäden, wenn man das geschickt zusammenfügt, sieht es vielleicht aus wie eine Mähne. Die beiden stricken und basteln und nähen. Brav erträgt Tschikko immer neue Anproben. „Wir haben uns Löwenfotos angesehen, zum Vergleich“, berichtet Julia. „Und irgendetwas passte nicht. Hat eine Weile gedauert, bis wir kapiert haben, dass die Mähne bis auf die Brust reicht, wir mussten sie nach unten noch mal verlängern.“
Und dann verbindet die Fotografin zwei Vorhaben: Sie möchte ihre neue Heimat Hamburg besser kennenlernen und Tschikko an ihren Expeditionen teilhaben lassen. Was liegt näher, als ihn ins Bild zu setzen, wenn sie zusammen die Sehenswürdigkeiten erkunden? „Zum Glück findet er nichts besser, als irgendwo raufzuspringen“, erzählt Julia. Es entstehen Ansichten von Hamburg, wie man sie noch nicht gesehen hat – die Stadt als Revier des Großstadtlöwen. Julia und Tschikko zieht es vor allem ans Wasser, an die Landungsbrücken, an den Elbstrand, zum Fischmarkt … Warum die Fotos so gut funktionieren? Es ist kein komplizierter Aufbau, keine komplexe Inszenierung. Ein Hund mit einer Perücke vor Hamburger Kulisse. Doch es wirkt, der Gegensatz entlockt bei jedem Betrachter ein Lächeln. Der Löwe, die große Stadt, man sieht bekannte Landmarken mit neuem Blick. Das Zeitfenster für Julia ist allerdings nie besonders groß. Tschikko hat Spaß an seiner Aufgabe, aber länger als zehn bis fünfzehn Minuten darf es nicht dauern, dann schweift seine Aufmerksamkeit ab, dann ist die Konzentration flöten. Und so ein Großstadtlöwe darf natürlich nicht plötzlich mit dem Schwanz wedeln oder am nächsten Laternenpfahl schnuppern. Erst wenn das Bild im Kasten ist, darf er wieder Hund sein.
Er genießt es, wenn er in seinem eigenen Tempo flanieren kann. Hier schnüffeln, da das Bein heben, Streuner eben, er hat alle Zeit der Welt. Nach einem Jahr und ungezählten Streifzügen hat Julia genügend Bilder für eine Ausstellung zusammen. Rund zwanzig Motive werden im Großformat aufgezogen, der Großstadtlöwe auf seinen Streifzügen durch die Stadt. Die Ausstellung ist ein voller Erfolg!
Gibt es eine Fortsetzung? Die Fotografin ist noch nicht sicher. Für die Künstlerin ist die Geschichte erzählt, das Projekt eigentlich abgeschlossen. Andererseits: Sie hat ihren Hund auch schon auf Reisen fotografiert, im Schnee in den Bergen. Unterwegs in Frankreich. Tschikko in New York, der Großstadtlöwe erobert Manhattan, das könnte sich Julia schon vorstellen. Aber wie hinkommen? Den Hund in eine Box sperren und im Bauch des Fliegers verstauen? Kann sie ihm nicht antun. Außerdem fällt die Mähne langsam auseinander. Könnte man natürlich flicken. Oder? Erstmal im Norden bleiben: Der Löwe am Strand, auf der anderen Seite der Elbe sind die Containerbrücken des Burchardkais zu erkennen. Der Löwe sitzt und langweilt sich, er fängt an zu buddeln. Immer tiefer wühlt er sich in den Elbsand, bis seine Mähne fast nicht mehr zu sehen ist. Ein glücklicher Hund. Klick.
Dieser gekürzte Text und die wunderbaren Fotos stammen aus dem Buch „Fellherz St. Pauli: Deutschlands buntester Kiez – 21 Geschichten frei Schnauze“, erschienen im Ankerherz Verlag. Über mehr als 200 Seiten porträtieren Autorin Simone Buchholz und Fotografin Debra Bardowicks unterschiedliche Hundehalter, die ein Fellherz haben. Manchmal lustig, manchmal melancholisch und immer frei Schnauze wie der Kiez, in dem sie leben!
TEXT Olaf Kanter FOTOS Julia Marie Werner